Unter Tränen begrüßt
Auf Befehl der Stadtregierung (siehe Bilder unten) sollten am 15.April 1942 die ersten Wagen aus sechs Depots auf die Linien 3, 7, 9, 10 und 12 ausrücken.
Die Linien entsprachen zum größten Teil ihrer Vorkriegsroute, waren aber den Bedingungen der Blockade angepasst worden. Aus den Erinnerungen der Straßenbahnfahrerin E.F. Agapowoj des ehemaligen Skrokhodow-Depots: „Wir liefen zum Depot wie zu einem Feiertag und wussten: wir müssen raus ‚auf Linie. Es hatten sich alle versammelt, die noch da waren. [...] Ich drückte an der Kurbel, stellte sie auf die erste Position und auf einmal erwachte der Wagen. Ich kann gar nicht beschreiben, was ich in diesem Moment gefühlt habe. Dann fuhr ich den Waggon aus dem Depot. An den Haltestellen steigen Leute ein, sie lachen und weinen vor Freude. Viele fragen: ‚Was kostet den jetzt ein Fahrschein? Und ich lache auch und wische mir die Freudentränen aus dem Gesicht: ‚Die gleichen 15 Kopeken, meine Lieben, die gleichen 15 Kopeken.[1]
Das Klingeln der Straßenbahn in der sonst so toten Stadt war für die Menschen wie ein Lebenszeichen, ein kleiner Sieg. Vera Iwanowna Pawlowa aus Tosno erinnert sich: "Ich war Sanitäterin im Evakuierungskrankenhaus Nr. 68, Ecke B.[olschaja]-Puschkarskaja-Straße. [...] Es gab weder Wasser noch Licht [...] Und in einem Krankenzimmer dort riefen die fast Sterbenden plötzlich: `Leute ein Sieg, hurra, hurra´ Es war April 1942, meiner Meinung nach der 15. April. Und wer konnte, schleppte sich ans Fenster. Hurra! Ein Sieg! Eine Straßenbahnklingel schrillte, und die Bahn fuhr wieder, die den ganzen Winter auf dem Bolschoj Prospekt gestanden hatte. Wenn Sie gesehen hätten, welche Freude das auslöste! Einer, der etwas kräftiger war, sagt: `Das ist schon ein Sieg!´".[2]
Und Rintala schreibt in seinem Buch "Leningrader Schicksalssymphonie: "Anfang April konnten wir die Montagearbeiten beenden. Jetzt begann unser fünftes E-Werk wieder mit der Arbeit. [...] Jetzt waren wir in der Lage, bis zu zweiundzwanzigtausend [Kilowatt] zu produzieren. Das war nicht viel, aber doch so viel, dass die Straßenbahnen wieder verkehren konnten. Das geschah im April. Die erste Linie, die eröffnet wurde, war die von den Bolschewik-Werken zur Wassili-Insel. Und wenn ich mich jetzt noch recht entsinne, dann war die Nummer des ersten Straßenbahnwagens die Sieben. [...] Ihnen dürfte es schwer fallen, unsere Freude zu begreifen, als die erste Straßenbahn auf dem Newski erschien. Die Menschen liefen zusammen, um sie zu liebkosen. Sie wurde mit Blumen geschmückt. Die Schauspieler holten aus dem Theater ihre Lorbeerkränze und bekränzten sie. Wenn jetzt ein Elefant auf dem Newski erschiene, eine Herde Flußpferde ..., nein, auch das wäre nicht so verwunderlich; ich finde keinen Vergleich, um unser freudiges Erstaunen auszudrücken. Es war ein großes Fest. Die Wagen waren noch die alten, treuen Wägelchen! Jetzt erinnert man sich an sie wie an Gestalten aus einem schönen Märchen. Sie hatten auch noch die alte Klingel. Wenn der Schaffner am Band zog, klang es wie Glockengeläut. Ach, die herrlichen Straßenbahnwagen aus der Kinderzeit!. Sie riefen die Zeit in Erinnerung, da das Leben noch schön und behütet war. Das war das erste Anzeichen unseres Sieges."[3]
Und der bekannte Schriftsteller Juri Woronow[4] hat diesem Ereignis eines seiner vielen Blockadegedichte gewidmet:
После Зимы Чтоб знать, кто выжил, Пишем всем знакомым А вот ответы Редкие идут Нам больше ответчают управдомы: "Все умерли... На фронте... Не живут..." И вдруг Письмо от бывшего соседа: "Хожу с трудом, но это не беда. На днях пойдет трамвай И я заеду..." Трамвай поидет опять - Вот это да![5]
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Nach dem Winter, Um zu wissen wer überlebt hat, Schreiben wir allen Bekannten Aber die Antworten Bleiben selten Meistens antworten die Behörden: Alle tot... An der Front... Verzogen... Und plötzlich Ein Brief des früheren Nachbarn: Ich kann kaum laufen, doch das ist keine Qual. Die Straßenbahn fährt wieder Ich komme mal vorbeigefahren... Die Straßenbahn fährt wieder - Das ist ja was![5]
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Die Emotionen, die dieses Ereignis auslöst, machen deutlich, welchen Stellenwert die Eröffnung der Straßenbahn für die Menschen hat. Der 15. April 1942 wird auch in den meisten anderen Tagebüchern dargestellt und weitestgehend als "kleiner Sieg" gewertet. Es ist genau dieser Tag, der die Leningrader so mit ihrer Straßenbahn verbindet. War sie früher nur ein Verkehrsmittel, so waren sich die Menschen jetzt bewusst, welchen Stellenwert die Bahn im Leben der Stadt hatte. Bis zum November des Jahres 1942 wurde das Netz noch um die Linien 30 am 25. April, die Linie 20 am 15. Juni und die Linien 18,19 und 24 am 20. November erweitert [6] (siehe auch Netzplan 1941-1944).
Doch all diese Nachrichten können nicht darüber hinweg täuschen, dass die Lage des Straßenbahnbetriebes katastrophal war. Von den noch vorhanden 2014 Wagen waren nur 636 einsatzfähig. Alle anderen standen in den Depots. Zwischen April und Dezember 1942 waren 3926mal Wagen mit Schäden in die Werkstätten zurückgekehrt. Um die Situation zu verbessern wies die Stadtregierung einige Betriebe der Stadt an, neben den Kampfmitteln für die Front auch Ersatzteile für Straßenbahnwagen herzustellen. Die Werkstätten der Straßenbahn hatten über anderthalb Jahre der Front geholfen, nun wurde es Zeit, dass man der Tram unter die Arme griff.
Auschnitt aus dem Film “Baltijskoe Nebo” von Vladimir Vengerov aus dem Jahre 1961. Dr Mythos rund um die Wiederinbetriebnahme der Tram findet auch hier Beachtung (04:05 - 06:30 Minuten).
[1] GORLIN, Juri N.: Leningradskij tramwaj 1941-1945, S. 130 [2] GRANIN, Danil, ADAMOWITSCH, Ales`: Blokadnaja kniga, S. 177 [3] RINTALA, Paavo, Leningrader Schicksalssymphonie, S. 347f. [4] WORONOW Juri, geboren 1929 in Leningrad, Schriftsteller, Journalist und Kulturpolitiker. Besonders sein Gedicht "Гремит салют над Ленинградом" wird in vielen Büchern über die Blockade zitiert. [5] GORLIN, J.N.: Leningradskij tramwaj 1941-1945, S.128, eigene Übersetzung [6] alle Angaben zur Wiederaufnahme des Verkehrs aus "Leningradskie Magistrali", 8.12.1993, S.2f.
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